05.07.2019 – Paukenschlag durch den Verfassungsgerichtshof des Saarlandes – Az: Lv 7/17
Ohne (Roh-)Messdaten – keine Verurteilung, wenn der Betroffene die Messdaten überprüfen (lassen) wollte.
Verkehrsmessungen, bei denen die Herausgabe zugrunde liegender (Roh-) Messdaten unmöglich ist, dürfen nicht Grundlage einer Verurteilung sein, wenn der Betroffene die Messdaten überprüfen (lassen) wollte. Die unsererseits schon längst vertretene Rechtsmeinung nähert sich damit einem positiven Ende und sollte dem durch uns aktuell parallel geführten Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht ausreichend Argumente liefern, diese Sichtweise auch bundesweit zu statuieren.
Der VerfGH hebt den für den Betroffenen negativen Beschluss des Saarländischen Oberlandesgerichts vom 26.06.2017 (Ss RS 22/2017) und gleichzeitig das diesem zugrunde liegende Urteil des Amtsgerichts Saarbrücken vom 28.3.2017 (22 OWI 859/16) auf.
Diese Entscheidungen verletzen den Beschwerdeführer in seinen Grundrechten auf ein faires Verfahren aus Art. 60 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 SVerf und auf wirksame Verteidigung aus Art. 14 Abs. 3 SVerf.
Zentrale Aussagen der Entscheidung:
– Fehlt es hinsichtlich einer Verurteilung an den zugrunde liegenden Rohmessdaten für den konkreten Messvorgang und vermag sich eine Verurteilung nur auf das dokumentierte Messergebnis und das Lichtbild des aufgenommenen Kraftfahrzeugs und seines Fahrers zu stützen, so fehlt es an einem fairen rechtsstaatlichen Verfahren, wenn sich ein Betroffener wie hier – selbst ohne nähere Begründung – gegen das Messergebnis wendet und ein Fehlen von Rohmessdaten rügt. Eine Verurteilung kann dann auf dieser Grundlage nicht erfolgen.
– Jeder Betroffene hat das Recht, sich – gegebenenfalls konfrontativ – mit den von Strafverfolgungs- und Bußgeldbehörden aufgeführten Beweismitteln auseinandersetzen zu dürfen und „Waffengleichheit“ zwischen Strafverfolgungs- und Bußgeldbehörden und Verteidigung einfordern zu dürfen.
– Zugleich gehört zu den Grundsätzen eines freiheitlichen und rechtsstaatlichen Verfahrens, dass ein Beschuldigter sich zur Sache nicht einlassen muss, also nicht selbst gehalten ist, in irgendeiner Weise die staatliche Beweisführung zu erleichtern oder sich gar zu entlasten. Daraus folgt, dass der Verteidiger eines von einem Straf- oder Bußgeldverfahren Betroffenen nicht nur die Möglichkeit haben muss, sich mit den rechtlichen Grundlagen des gegen seinen Mandanten erhobenen Vorwurfs auseinanderzusetzen, sondern auch dessen tatsächliche Grundlagen auf ihr Vorliegen und ihre Validität prüfen zu dürfen.
– Ist ein Gericht – im Rahmen von Massenverfahren – befugt, sich auf standardisierte Beweiserhebungen zu stützen, ohne sie anlasslos hinterfragen zu müssen, so muss zu einer wirksamen Verteidigung gehören, etwaige Anlässe, sie in Zweifel zu ziehen, recherchieren zu dürfen, sich also der Berechtigung der Beweiskraft der dem Gericht vorliegenden Umstände zu vergewissern.
– Ist ein Gericht aber rechtlich nicht gehindert zu versuchen, sich möglicherweise bessere Erkenntnisse zu verschaffen, so darf dies einem Verteidiger – im Lichte des Prinzips der Waffengleichheit – nicht deshalb versagt werden, weil ein Gericht angesichts der Fülle der von ihm zu bearbeitenden Fälle und angesichts der typischerweise bestehenden Verlässlichkeit von standardisiert ermittelten Messergebnissen darauf verzichtet.
– Solange der (Bundes-)Gesetzgeber, sofern er das bundesverfassungsrechtlich dürfte, eine Verurteilung nicht allein von dem Ergebnis einer standardisierten Messung abhängig macht, dürfen Gerichte – jedenfalls des Saarlandes – einen Betroffenen nicht verurteilen, ohne ihm eine effektive Verteidigung zu erlauben und ihm zu gestatten, die Validität der standardisierten Messung zu prüfen.
– Rechtsstaatlichkeit verlangt die Transparenz und Kontrollierbarkeit jeder staatlichen Machtausübung (BVerfGE 123, 39 ff. juris-Rz. 110).
– Vor diesem Hintergrund ist davon auszugehen, dass ein Verteidiger die Grundlagen einer Geschwindigkeitsmessung eigenverantwortlich prüfen darf. Das ist auch dann der Fall, wenn er zunächst keine auf der Hand liegende Einwände – beispielsweise die mit dem Messergebnis unvereinbare bauartbedingte Geschwindigkeitsdrosselung oder sich aus dem Lichtbild offenkundig ergebende Unklarheiten – vortragen kann.
– Zugleich kann – wie vorsorglich bemerkt wird – eine wirksame Verteidigung ohne normative Ermächtigung nicht aus Gründen der Belastung von Gerichten oder Rechtsschutzversicherern oder gar einer Beschränkung von Geschäftsfeldern von technischen Sachverständigen beschränkt werden.
– Der VerfGH des Saarlandes stellte im Ergebnis schließlich fest, dass es keine zwingenden Gründe gibt, Rohmessdaten nicht zu speichern, und erlaubt ihre Speicherung, das Ergebnis eines Messvorgangs nachzuvollziehen, so ist es unerheblich, dass es sich bei Bußgeldverfahren um Massenverfahren von in aller Regel geringerem Gewicht für einen Betroffenen – immerhin können sie im Einzelfall eben doch dazu führen, dass erhebliche Einschränkungen der Mobilität und der beruflichen Einsatzmöglichkeiten entstehen – handelt, und dass in der weit überwiegenden Zahl aller Fälle Geschwindigkeitsmessungen zutreffend sind.
– Rechtsstaatliche Bedingungen sind nicht nur in der weitaus überwiegenden Mehrzahl aller Fälle zu beachten, sondern in jedem Einzelfall.
Was war dem Fahrer des zugrunde liegenden Falls und im darauf folgenden Verfahren überhaupt passiert?:
In dem entschiedenen Fall ging es um eine Verurteilung eines Betroffenen zu einer Geldbuße in Höhe von 100 € wegen fahrlässiger Überschreitung der innerorts zulässigen Höchstgeschwindigkeit um 27 km/h (nach Toleranzabzug).
Bei der verwendeten Geschwindigkeitsmessanlage handelte es sich um das Modell Traffistar S 350 der Firma Jenoptik. Das Gerät misst die Geschwindigkeit auf der Grundlage von Laserimpuls-Laufzeitmessungen.
Der nach Herausgabe der Messdatei und der Lebensakte von dem Beschwerdeführer beauftragte Sachverständige teilte mit, „anhand der Zusatzdaten zum Falldatensatz“ sei eine „unabhängige Geschwindigkeitskontrolle nicht annäherungsweise möglich“. Die Weg-Zeit-Rechnung sei nicht nachvollziehbar.
Mit der Verfassungsbeschwerde rügte der Betroffene, in seinem Recht auf ein faires Verfahren aus Art. 60 Abs. 1 i.V.m. Art 12 Abs. 1 SVerf verletzt zu sein, weil sein Beweisantrag übergangen worden sei, bauartbedingt sei eine Überprüfung des Messergebnisses durch ein Sachverständigengutachten nicht möglich, da das Messgerät die entsprechenden Rohmessdaten nicht speichere. Das Gericht habe damit nicht zur Kenntnis genommen, dass die Annahme eines standardisierten Messverfahrens als solche nicht grundsätzlich angegriffen werde, sondern die Tatsache, dass durch die fehlende Speicherung von Messdaten dem Betroffenen die Möglichkeit genommen werde, die bestehenden hohen Anforderungen an einen Vortrag zu Messfehlern zu erfüllen. Der Betroffene könne nämlich seinen Anspruch auf Einsicht in die Messdateien tatsächlich nicht effektiv zur technischen Überprüfung nutzen.
Der Verfassungsgerichtshof hat in der mündlichen Verhandlung vom 09.05.2019 durch mündliche Anhörung von Sachverständigen zu folgenden Beweisfragen Beweis erhoben:
Welche Daten des Messvorgangs und welche weiteren Informationen sind erforderlich, um eine nachträgliche Überprüfung von Messungen – vor allem Geschwindigkeitsmessungen – zu ermöglichen?
Insbesondere sollte aufgeklärt werden,
ob die Vorkehrungen der PTB im Rahmen des Zulassungsverfahrens oder des Verfahrens der Konformitätsbescheinigung sicherstellen, dass keine relevanten Messfehler entstehen,
ob die Speicherung der Rohmessdaten technisch möglich ist und ob und welche Vorteile sie für eine nachträgliche Kontrolle der Messrichtigkeit erlauben würde,
ob die Statistikdatei gespeichert wird und welche Erkenntnisse ihre Offenlegung für eine nachträgliche Überprüfung der Messrichtigkeit böte.
Und nun?:
…ein Einspruch gegen einen Bußgeldbescheid lohnt sich also mehr denn je!
Wir prüfen fachmännisch Ihren Bußgeldbescheid, das Messergebnis und versuchen Punkte und Fahrverbot für Sie zu verhindern!
Jürgen Fritschi
Rechtsanwalt &
Fachanwalt für Verkehrsrecht